Das Regensburger interdisziplinäre Forschungscluster zu Korruption in Südosteuropa
Korruption gilt als eines der zentralen Probleme Südosteuropas auf dem Weg zu Entwicklung, Stabilität und europäischer Integration. Intensives Monitoring, mediale Kampagnen und massiver Institutionenimport sind in den letzten 20 Jahren aufgefahren worden, um das Problem in den Griff zu bekommen – mit insgesamt bescheidenen Resultaten. Unser Forschungscluster an der Universität Regensburg nimmt sich des Themas auf innovative Weise an. Wir gehen von der Annahme aus, dass das Phänomen Korruption zwar universal ist, aber jede Gesellschaft ihre eigene Grenze zwischen legitimen und illegitimen Handlungen kennt. Internationale Antikorruptionskampagnen, die diesen lokalen Kontext nicht anerkennen, drohen zu verpuffen, wenn sie den lokalen Kontext nicht angemessen aufgreifen und keinen Anschluss an lokale Diskurse suchen. In einer Region wie Südosteuropa, die sich seit jeher als Spielball auswärtiger Mächte und ihrer Interessen sieht, ist nicht zu erwarten, dass sie sich mit von der Europäischen Union eingeforderten Veränderungen identifiziert und einen tiefen, authentischen gesellschaftlichen Wandel einleitet. Damit dies geschieht, bedarf es zunächst einer „Autochthonisierung“ des Begriffsapparats, mit dem wir Korruption erfassen und beschreiben. Ein Beispiel: Wo, wie in Südosteuropa, Menschen in ihrer Geschichte Misstrauen gegenüber dem Staat erlernt haben, dort verinnerlichen sie auch die Wichtigkeit alternativer Absicherung durch Familie oder Freunde. Eine Antikorruptionspolitik, welche die Bevorzugung nahestehender Personen per se als unmoralisch darstellt, verkennt den Wert, den diese Beziehungen für die Menschen haben, und verpasst damit den Ansatzpunkt für Veränderungen. Dieser kann nicht in der Erwartung liegen, dass Familie und Freundschaft in Windeseile zur „Privatsache“ werden, die nichts mit der Verteilung öffentlicher Ressourcen zu tun hat. Wichtiger wäre, dass eine Gesellschaft persönliche Netzwerke so in das formale Regelwerk einbaut, dass lokale Gerechtigkeitsvorstellungen zufriedengestellt, aber dabei auch Grenzen gesetzt werden und Transparenz bei eventuellen Übertretungen sichergestellt ist.
Wir übersetzen unseren Ansatz in Forschung, indem wir eine interdisziplinäre Kooperation der Disziplinen Geschichte, Linguistik und Betriebswirtschaft praktizieren. Alle drei Disziplinen zeichnen sich aus durch ihre Offenheit für qualitative Ansätze, also für die genaue Betrachtung lokaler/regionaler/nationaler Gegebenheiten und konkreter Akteure. Über unsere vier historischen Teilprojekte untersuchen wir Stabilität und Wandel des Korruptionsverständnisses in einigen Teilregionen Südosteuropas (ehemals jugoslawischer Raum, Rumänien) seit dem 18. Jahrhundert. Dabei arbeiten wir die Hindernisse von Antikorruptionsmaßnahmen auf. Hier geht es etwa um verdeckte oder offene Instrumentalisierung dieser Maßnahmen durch Eliten, lokales Unverständnis und in Staatsmisstrauen begründete Gegenwehr aus der Bevölkerung, historische Zäsuren mit institutionenzerstörender Wirkung. Ein linguistisches Teilprojekt befasst sich mit dem korruptionsbezogenen Wertewandel im 20. Jahrhundert, wie ihn nur eine diachrone Analyse entsprechender Lexeme und Wortfelder offenlegen kann. Ein wirtschaftswissenschaftliches Teilprojekt schließlich befasst sich mit Korruptionsverständnis und Korruptionspraktiken in der Wirtschaftswelt heute, auf der Basis eingehender Befragungen von Wirtschaftsakteuren vor Ort.
Mit unserem regionsbezogenen Ansatz wollen wir keineswegs behaupten, Südosteuropa sei eine abgeschlossene Welt für sich. Vielmehr werden an der Region viele Dinge sichtbar, die überall dort eine Rolle spielen, wo Menschen dem Staat mit Misstrauen begegnen. Mit unserem „partikularistischen“ Ansatz verneinen wir auch nicht, dass Korruption ein verflochtenes, globales Problem ist, zu dessen Lösung auch grenzüberschreitende Maßnahmen hilfreich sein können. Allerdings wollen wir zeigen, dass globale Lösungsstrategien immer auch den lokalen Kontext bedenken müssen, und dass ein globales Verständnis von Korruption nur dann hilfreich ist, wenn es nicht die Weltsicht und die Interessen normensetzender zentraler Institutionen widerspiegelt, sondern aus einer Schnittmenge lokaler, regionaler Korruptionsverständnisse entwickelt wird. Erst dann werden die Voraussetzungen für Antikorruptionsmaßnahmen geschaffen, die lokal „ankommen“ und auch nachhaltig wirken.